Armes Theater Wien: Kinder der Sonne

Armes Theater Wien: Kinder der Sonne

August 19, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Gorki ganz ohne Russische-Seele-Klischees

Krista Pauer, Florine Schnitzel, Simon Stockinger, Klaus Fischer, Alexandra-Yoana Alexandrova, Daniel Ruben Rüb Bild: © Vondru

Krista Pauer, Florine Schnitzel, Simon Stockinger, Klaus Fischer, Alexandra-Yoana Alexandrova, Daniel Ruben Rüb
Bild: © Vondru

Zu Beginn wechselt Jegor kaputte Lampen im Kronleuchter aus. Ganz nah kommt er mit der Leiter ans Publikum, berührt fast die Fußspitzen der Zuschauer in der ersten Reihe, eine Frau zuckt, weicht aus, doch da ist es schon passiert – sie ist gefesselt vom Geschehen. Seit zehn Jahren gehört dies zum Konzept des Armen Theater Wien: Schauorte öffnen, Distanz abschaffen, auf Augenhöhe agieren, so dass man mit dem nur um Armeslänge entfernten Schauspieler frei nach Jerzy Grotowski mitatmen, mitfühlen kann. Die Szene wird sich später am Abend wiederholen. Da haben die Intelligenzler den Proletarier verjagt und müssen die Mühsal mit den Glühbirnen auf sich nehmen. Protassow scheitert beim Versuch. Natürlich.

Das Arme Theater Wien zeigt zu seinem Jubiläum Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“. Gorki, Sturmvogel der russischen Revolution, den die Bekanntschaft mit dem eigenen Volk „bitter“ machte, erfand die Tragikomödie in einer Gefängniszelle der Peter-und-Pauls-Festung, wo er wegen seiner Sympathien für die Petersburger Blutsonntagsrevolte eingesperrt war. Das Stück ist ein Beziehungsreigen, zeigt mehr als eine Sozialstudie die Kluft zwischen den Klassen, zeigt die Tagalbträume eines fühligen Sextetts, zeigt des Autors Hoffnung, die Kreativen könnten gesellschaftspolitisch wegweisend sein, zeigt einen Albtraum namens nackte Existenz, der das Volk beutelt, zeigt, wie der Mensch nicht über seinen Tellerrand blicken kann. Gorki soll beim Schreiben, so zumindest überliefert, laut gelacht haben.

Ein Vergnügen, dass Regisseur Erhard Pauer da ansetzt. Seine Arbeit befreit die „Kinder der Sonne“ von allem, was – allzu oft schon so gesehen – tonnenschwer bedeutungsschwanger ist. Seine Inszenierung strahlt Leichtigkeit, besser gesagt: eine gewisse fatalistische Grandezza aus. In nicht ganz zwei Stunden erzählt er knackig eine hochaktuelle Geschichte, befreit von den üblichen Klischees des Russischen-Seele-Ballasts. Dabei verfehlt er nicht, die Standpunkte der Gorki’schen Charaktere und auch seinen eigenen künstlerischen klar zu machen. Diese „Kinder der Sonne“-Produktion ist in dieser Klarheit zweifellos eine der besten, die man in Wien bis dato sehen konnte. Großen Anteil am Gelingen hat die unter der Ägide von Krista Pauer erstellte Textfassung des Armen Theater Wien. Man hat die Worte zugeschliffen, bis ihre Spitzen sitzen und stechen. Man verwehrt sich den Begriff Pointe, um den wunderbaren Abend nicht im Schenkelklopfbiotop anzusiedeln, aber wie Protassow angesichts von Melanijas leidenschaftlicher Liebeserklärung emotional schwer überfordert stammelt „Ich kann Ihre Grundidee nicht verstehen“, das hat Pfeffer – die Schauspieler wissen Auftritte damit zu würzen.

Ein durch Bildung und Herkunft begünstigtes Herrentrio stellt die Blickwinkel ein: Kunst hat keinen Wert (Dimitrij Wagin). Es gibt auf der Welt nichts Wertloses (Pawel Protassow). Außer die Welt selbst (Boris Tschepurnoi). Biologe Protassow will an die Möglichkeit des Menschen glauben, sich von jeglichem Joch zu befreien und sich selbst schöpferisch zu vervollkommnen. Auch Gorki glaubte daran, weshalb er sich mit Lenin überwarf und ins Exil musste. Daniel Ruben Rüb gibt den philosophischen Professor als weltfremden Weltverbesserer, dem die Reagenzgläser näher sind als die Realität. Heiß nur der Tee, nach dem er ständig verlangt, er selbst lauwarm. Ganz im Gegensatz zum Wagin von Branimir Agovi, dessen Maler ganz Mannsbild ist, auf Betriebstemperatur wie ein Opernsänger vor der großen Arie. Auch optisch macht Agovi das her. Simon Stockingers Tierarzt Boris hält beiden die ehrlich erarbeitete Überzeugung entgegen, der Mensch sei widerlich. Stockinger gestaltet diesen Ablasser zynischer Wortspenden, diese letztlich tragische Figur als lyrischen, mit bubenhaftem Charme ausgestatteten Helden. So wie alle drei in ihrer Rollengestaltung bestechen, kann man über Letzteren, den Erhard-Pauer-Schüler, ohne Pauer seine Schauspieler wegempfehlen zu wollen, nur sagen: Bühnen, schaut euch nach ihm um!

Krista Pauer besticht als Jelena. Ihre elegische Erscheinung im Duett mit der charakteristisch-rauchigen Gänsehaut-Stimme ist Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Diese Jelena, von Wagin sexuell bestürmt, wie sie es sich von Ehemann Protassow wünschen würde, hat ihren Stoizismus nicht als Geburtsrecht mitbekommen, sondern arbeitet täglich hart daran, um dem stürmischen Meer ihrer Mitmenschen ein Fels in der Brandung zu sein. Alexandra-Yoana Alexandrova wirkt als Melanija angeknipst wie eine Shopping-Queen-Kandidatin kurz vor dem Laufsteg. Umso größer der Effekt, wenn die Kaufmannswitwe ihr Inneres nach außen offenbart, Alexandrova ihrer Figur den Firnis aus Couture und Goldkettchen abkratzt und die Sicht auf eine einsame Frau freigibt. Die von Florine Schnitzel mit mädchenhafter Glut gespielte Lisa ist ein Kummerkind, dessen sehr wahren Umsturzfantasien niemand Beachtung schenkt. Die Nervenkranke wird den verliebten Boris ins Unglück stürzen.

Den Kopfgebürtigen steht eine Körpergestalt gegenüber: Klaus Fischer muss als Jegor von Salontür zu Gartentor auch die meisten Kilometer machen. Sein Schlosser changiert zwischen Unikat und Unikum. Standesstolz gibt sich der Arbeiter als Herr im Haus, doch weiß der Proletarier anno 2015 längst, dass auch ihn die Historie hinter sich gelassen, dass er den Baumeistern der Macht nur als Stützmaterial beim Errichten ihrer kapitalen Türme gedient haben wird. Fischer erzählt das im Tonfall verzweifelter Wut und rundet die tadellose darstellerische Leistung aller damit ab.

Wenn Idee und Ausführung stimmen, kann man auch ohne den „Schnickschnack“ opulenter Bühnenbilder und Kostüme großartiges Theater machen. Das Arme Theater Wien beschenkt mit seiner puren Art zu spielen das Publikum reich. Dass eine Truppe wie diese ohne Subvention gelassen wird, optimiert vielleicht ihre Kreativität und den Idealismus, ist aber kulturpolitisch völlig unverständlich. Da muss sich Wiens Großer Kultur-Gossudar die Kritik gefallen lassen, dass er was versäumt hat. Noch ist Zeit!

Zu sehen bis 28. August im Bockkeller. Im November folgt im WUK „Nach dem Ende“ von Dennis Kelly.

www.armestheaterwien.at

Wien, 19. 8. 2015